Alte Männer sind besser als ihr Ruf!

Lange habe ich nicht mehr mit so großer Begeisterung ein Buch „durchgefräst“, wie ein früherer WG-Mitbewohner zu sagen pflegte, wie Karl Heinz Bohrers „Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie“. Da erzählt ein inzwischen 84jähriger Denker auf über 500 Seiten über seine lebenslange – theoretische und praktische – Faszination für das Glück des intensiv gelebten und beschriebenen Augenblicks.

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Für diejenigen, die Bohrer nicht kennen: Er war mal Literaturchef der FAZ, später Professor für Literaturwissenschaft in Bielefeld mit Wohnsitz in Paris und über 20 Jahre Herausgeber des „Merkur“, der vielleicht interessantesten intellektuellen Zeitschrift in Deutschland. Außerdem war er ein wichtiger Anreger für meine Doktorarbeit über den Augenblick und ich glaube, ich habe erst jetzt mit 25 Jahren Verspätung so richtig verstanden, worum es ihm immer ging: den absoluten Eigenwert der Kunst und dass Literatur in erster Linie eigentlich nichts mit Inhalten zu tun hat, so bedeutend sie auch sein mögen. Eine ziemlich steile These also.

Das klingt jetzt etwas theoretisch (was das Buch zwischendurch auch ist). Aber das Buch ist auch randvoll mit tollen Geschichten, Beobachtungen und Anekdoten – über Fußball und Theater, über Habermas, mit dessen Werk und Person er sich immer wieder auseinandersetzt, über Thomas Bernhard, Michel Krüger und Alfred Brendel oder über Ulrike Meinhof, mit der er befreundet war. Es gibt kluge Beobachtungen über England in den 70ern und Frankreich in den 80ern und die anrührende Beschreibung seiner Beziehung zu Undine Gruenter und ihres Kampfs mit einer schrecklichen Krankheit. Zwei seiner Lieblingsthemen kommen natürlich auch immer wieder vor, seine Kämpfe gegen den von ihm diagnostizierten deutschen Provinzialismus und den langweiligen ideologischen Konformismus seiner Professorenkollegen. Eigentlich habe ich noch nie eine Autobiographie gelesen, in dem ein theoretisch-akademisches Interesse als Erklärungsmuster für das eigene Leben so gut funktioniert.

Dies ist ein Buch für Leute, die sich für die intellektuelle Geschichte der Bundesrepublik interessieren, glänzend geschrieben, nie langweilig, immer anregend, auch wenn man zweifelsohne nicht immer seiner Meinung sein muss. Und ironischerweise ist diese Geschichte viel spannender als Bohrer immer behauptet hat. Was ich als Nächstes lese, ist klar: Bohrers Kindheits- und Jugenderinnerungen „Granatsplitter“. Ich freu mich jetzt schon. Ach, und dass ich es nicht vergesse: Frohe Ostern euch allen!

2 Kommentare
  1. … ich fräse auch gerade durch, allerdings nicht ganz so schnell, wie ich möchte – es ist dies ein Buch gespickt voller wunderbarer Hinweise. Bin gerade im Kapitel „Der tote Esel am Strand“: Hier gleich wieder zwei wunderbare hinweise: S. 172: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ (Bildtitel von Goya), und: s. 164: „Der Monolog war die königliche Mitteilungsform. Nicht weil man Widerspruch zu erdulden hatte … sondern weil man die Phantasie ins Unendliche treiben konnte.“

    Ich bin ebenfalls ein sehr begeisterter Hindurchfräser dieses Buches, habe aber den Verdacht, dass ich zuviel größere Brocken beim Hobeln liegenlasse – gespickt voller Aphorismen möchte ich eins nach dem anderen gelb anstreichen … ein sehr empfehlenswertes Buch für jede(n), der/die einen Überblick über die geistigen Landschaften dieser Zeiten und Jahre sucht.

    Vielleicht schreibe ich auch noch ein paar Zeilen hierzu später. Würde das Buch davor am liebsten aber gleich ein zweites Mal lesen. Die Melancholie einiger Stellen ist auch unübersehbar. Im Kapitel über das Archaische (dem toten Esel am Strand) kommt er, ohne den neuen Literaturschef der Faz zu erwähnen, zu einem fast schon resignativen Urteil: „Fortan würde dieses Bürgertum, sofern es diese Zeitung las, jedenfalls nichts mehr von der wahren Moderne hören. Meine Zeit in Deutschland war zuende.“

    Vielen Dank für den Blogbeitrag und ebenfalls noch ein frohes Osterfest!

  2. Hört sich toll an, das kommt auf meine Wunschliste für Weihnachten. Wann kommt der Blogeintrag über ‚Granatsplitter‘? 😉

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