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Archiv für den Monat Mai 2015

Im April habe ich drei fette Sachbücher gelesen, die mich allesamt begeistert haben, die aber auch durchaus ein Stück Arbeit waren. David Van Reybrocks "Kongo. Eine Geschichte" ist genau das, was der Titel sagt: Die meistens schreckliche Geschichte des Kongo, des zweitgrößten afrikanischen Landes  (unter Mobutu eine Zeit lang auch als Zaire bekannt) von den kolonialen Anfängen bis zum 21. Jahrhundert. Das Besondere an diesem Buch ist, wie es journalistische Methoden mit klassischer Geschichtsschreibung verbindet. Der belgische Autor hat unzählige Zeitzeugen aufgespürt, zum Teil über 100jährige und deren Aussagen und die Begegnungen mit diesen Menschen machen das Buch zu einem echten Leseerlebnis. Da lernt man viel über europäische Kolonialgeschichte, die im Kongo meist ebenso grausliche Unabhängigkeitsgeschichte, aber auch über den Aufbruch des neuen Kongos bis zu kongolesischen Exilgemeinden in China heute. Ein 782-Seiten-Kracher! Ich bin allerdings nicht sicher, ob ich unbedingt jetzt nach Kinshasa muss... Zum Geburtstag hatte mir ein Freund "The Rest is Noise" von Alex Ross, dem Musikkritiker der New York Times, geschenkt, eine Geschichte der klassischen Musik im 20. Jahrhundert. Das fängt an mit Richard Strauss und Mahler und handelt danach alle Großen in großartigen Kapiteln ab: Schoenberg, Debussy, Stravinsky, Sibelius, Schostakowitsch, Britten und und und. Auch lauter Komponisten, um die ich instinktiv immer einen ganz weiten Bogen mache wie Ligeti oder Stockhausen. Aber Lou Reed und Björk kommen zum Beispiel auch vor. Ross liebt sie wirklich alle, schafft es, noch die schrägste Avantgarde als interessantes gesellschaftliches oder biographisches Phänomen rüberzubringen und schreibt außerdem über diese Komponisten und ihre Werke so, dass auch ein musikalischer Laie wie ich das verstehen kann. Wenn's dann an die innere Verfasstheit von Meisterwerken geht, musste ich zwar gelegentlich passen, aber dafür ist das gesellschaftliche Drumherum vom Berlin der 20er über Musik in Stalins Sowjetunion bis zu den musikalischen US-Epizentren der 60er - Kalifornien und New York - so farbig und anschaulich, dass es mich immer weiter getrieben hat. Ab jetzt mein Standardwerk, wenn in der Philharmonie mal wieder was Kompliziertes aus dem 20. Jahrhundert geboten wird. Und außerdem gibt's dazu ne Webseite zum Nachhören: www.therestisnoise.com/audio Und dann zum Schluß noch "Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990" von Philipp Felsch. Eigentlich ist das "nur" die Geschichte des kleinen Merve-Verlags, aber nebenher erzählt es die Geschichte, wie der Virus der Theoriebegeisterung ganze Generationen von Studenten in den 60ern, 70ern und 80ern infiziert hat: von Adorno über marxistische Lesegruppen bis Foucault und Baudrillard. Dabei geht es nicht so sehr um die Theorien selbst, sondern darum, warum so viele den Meisterdenkern und ihren apokalyptischen und fabelhaft unverständlichen Texten verfallen waren. Eine erstaunlich locker geschriebene und dabei sehr kluge Kulturgeschichte über die wunderbar verrückten Geisteswissenschaften und ihren Glauben, mit Theorie die Welt verändern zu können. Das ist natürlich eher was für Spezialisten oder für Leute, die das in ihrem eigenen Studium noch mitbekommen haben. Aber denen kann ich das unbedingt ans Herz lesen, und sei es aus Sentimentalität!