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Archiv für den Monat April 2017

Lange habe ich nicht mehr mit so großer Begeisterung ein Buch „durchgefräst“, wie ein früherer WG-Mitbewohner zu sagen pflegte, wie Karl Heinz Bohrers „Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie“. Da erzählt ein inzwischen 84jähriger Denker auf über 500 Seiten über seine lebenslange – theoretische und praktische – Faszination für das Glück des intensiv gelebten und beschriebenen Augenblicks.

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Für diejenigen, die Bohrer nicht kennen: Er war mal Literaturchef der FAZ, später Professor für Literaturwissenschaft in Bielefeld mit Wohnsitz in Paris und über 20 Jahre Herausgeber des „Merkur“, der vielleicht interessantesten intellektuellen Zeitschrift in Deutschland. Außerdem war er ein wichtiger Anreger für meine Doktorarbeit über den Augenblick und ich glaube, ich habe erst jetzt mit 25 Jahren Verspätung so richtig verstanden, worum es ihm immer ging: den absoluten Eigenwert der Kunst und dass Literatur in erster Linie eigentlich nichts mit Inhalten zu tun hat, so bedeutend sie auch sein mögen. Eine ziemlich steile These also.

Das klingt jetzt etwas theoretisch (was das Buch zwischendurch auch ist). Aber das Buch ist auch randvoll mit tollen Geschichten, Beobachtungen und Anekdoten – über Fußball und Theater, über Habermas, mit dessen Werk und Person er sich immer wieder auseinandersetzt, über Thomas Bernhard, Michel Krüger und Alfred Brendel oder über Ulrike Meinhof, mit der er befreundet war. Es gibt kluge Beobachtungen über England in den 70ern und Frankreich in den 80ern und die anrührende Beschreibung seiner Beziehung zu Undine Gruenter und ihres Kampfs mit einer schrecklichen Krankheit. Zwei seiner Lieblingsthemen kommen natürlich auch immer wieder vor, seine Kämpfe gegen den von ihm diagnostizierten deutschen Provinzialismus und den langweiligen ideologischen Konformismus seiner Professorenkollegen. Eigentlich habe ich noch nie eine Autobiographie gelesen, in dem ein theoretisch-akademisches Interesse als Erklärungsmuster für das eigene Leben so gut funktioniert.

Dies ist ein Buch für Leute, die sich für die intellektuelle Geschichte der Bundesrepublik interessieren, glänzend geschrieben, nie langweilig, immer anregend, auch wenn man zweifelsohne nicht immer seiner Meinung sein muss. Und ironischerweise ist diese Geschichte viel spannender als Bohrer immer behauptet hat. Was ich als Nächstes lese, ist klar: Bohrers Kindheits- und Jugenderinnerungen „Granatsplitter“. Ich freu mich jetzt schon. Ach, und dass ich es nicht vergesse: Frohe Ostern euch allen!